Dienstag, 28. Februar 2023

Navid Kermani bezog Stellung zum Ukraine-Krieg und der Situation im Iran

Kaum ein Wort in Deutschland hat ein solches Gewicht wie das von
Navid Kermani,
Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels. Der Publizist war am Jahrestag des Angriffs der russischen Armee auf die Ukraine zu Gast in Gevelsberg, um im Bürgerzentrum der vhs Ennepe-Ruhr-Süd in einem Gespräch mit WDR-Moderator Jan Schulte den Krieg in Europa sowie die Proteste im Iran aufzugreifen und näher zu beleuchten. 
Kermani habe sich zu einer der führenden intellektuellen Stim-men seiner Generation entwickelt, sagte Bür-germeister Claus Ja-cobi zu Beginn der Veranstaltung, die im Rahmen des Bundes-programms „Demokra-tie leben!“ stattfand und der über 120 Zuhörer*innen beiwohnten. Mit einer Vielzahl an Romanen, Essays und Reportagen habe er unter Beweis gestellt, dass er nicht nur ein Mittler zwischen Orient und Okzident ist, sondern auch zwischen den Kulturen und Religionen. Es sei daher eine Ehre, den Publizisten gerade an solch einem bedeutenden Tag in der Stadt begrüßen zu dürfen. Alle wüssten und spürten die Folgen des blutigen Angriffskrieges: „Energiekrise, eine hohe Inflation und den gewaltigen Druck auf unsere Demokratie, von innen wie auch von außen.“ Daher seien in diesen von Unsicherheit und Umbrüchen geprägten Zeiten Zusammenhalt und Solidarität von entscheidender Bedeutung, mahnte Jacobi.
 
Eine Vielzahl an interessierten Bürger*innen kamen in die vhs Ennepe-Ruhr-Süd, um den Ausführungen von Navid Kermani zum Ukraine-Krieg und der aktuellen Situation im Iran zu lauschen. 

Navid Kermani lebt als freier Schriftsteller in Köln. Er ist habilitierter Orientalist und Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Bereits mit fünfzehn Jahren begann er in seiner Geburtsstadt Siegen regelmäßig für die Lokalzeitung zu schreiben, und bereits während seines Studiums in Köln arbeitete er als fester Autor für das Feuilleton der FAZ. Neben seiner vielfach ausgezeichneten literarischen Arbeit ist der Kölner Schriftsteller aber immer auch Reporter und politischer Kopf geblieben. Die Grundlage seines Vortrages an diesem Abend war sein 2022 erschienenes Buch „Was jetzt möglich ist“. Dieses Buch versammelt erstmals seine wichtigsten politischen Artikel aus inzwischen fast drei Jahrzehnten. Einer seiner Artikel in diesem Buch, der in der ZEIT veröffentlicht war, stammt vom 24. Februar 2022, nach der Ankündigung Wladimir Putins, russische Truppen in den Donbass zu verlegen. 

In diesem Artikel geißelte er den Krieg als Mittel der Politik und sprach davon, dass eine EU-Mitgliedschaft der Ukraine ein Signal sein könnte, dass von der Ukraine keine Gefahr ausgehe, mit dem Nachsatz: „oder nur jene Gefahr für autoritäre Regime, die darin besteht, dass freie Gesellschaften so viel anziehender sind“. Ein paar Wochen später habe er sich dann selbst auf eine Reise in die Ukraine begeben, so schilderte er seinen Zuhörer*innen, bei der er unter anderem die Menschen in Kiew befragte hätte, ob sie sich vorstellen könnten, irgendwann wieder in Frieden mit den Russen zu leben. Eine der darauf gegebenen Antworten bestätigte den ganzen Irrsinn: „Ich selbst bin doch praktisch ein Russe, ich spreche die gleiche Sprache, das waren Leute wie wir." Wer einmal vor Ort gewesen ist, so sagte Kermani, der erkennt, dass der Wille, Widerstand zu leisten, in der Ukraine extrem stark ist. Was aber spiele sich hierzulande ab? „Deutsche Debattenkultur, Clickbaiting und Talkshow-Geistlosigkeit.“ Die Menschen dort kämpften um die Existenz, machte der Schriftsteller seinen Unmut deutlich. Russland kämpfe nicht um seine Existenz, für „den Aggressor ist es ein Krieg der Armee“. In der Ukraine kämpfe hingegen ein Volk. „Darum heiße ich auch Waffenlieferungen und die Unterstützung für die Ukraine für gut.“ Denn dies geschehe seiner Meinung nach nicht mit dem Ziel, Russland zu besiegen, sondern um eine Verhandlungslösung zu erreichen. „Man muss und sollte jede Chance für einen Frieden nutzen, oder sie zumindest ausloten", so Kermani. Vielleicht, so stellte er noch kurz in den Raum, sähe die Situation heute anders aus, hätte Europa der Ukraine die geforderten Sicherheitsgarantien gegeben, als sie 1993 die Atomwaffen an Russland abgab. Im Nachhinein ein schweres Versäumnis des Westens, denn „im schlimmsten Fall", so sagte er, könnte aus der damaligen Weigerung der Dritte Weltkrieg folgen. Was wiederum die Komplexität der Weltpolitik beweist, in der nichts ohne Folgen bleibt. 

Navid Kermani erläuterte nicht nur im Gespräch mit WDR-Moderator Jan Schulte seine Aussagen, er beantwortete zwischendurch natürlich auch immer mal wieder aufkommende Fragen aus dem Publikum. 

Neben dem Ukraine-Krieg brannte ihm aber noch ein Thema unter den Nägeln: die Situation im Iran. Der Schriftsteller appellierte an seine Zuhörer*innen, die dortigen Proteste weiter zu unterstützen. „Wir können uns ja nur verneigen vor dem Mut dieser Menschen, aber unsere Aufgabe ist es, jetzt, wo der Iran aus den Schlagzeilen verschwindet, weil die Situation nicht mehr so spektakulär ist, weil die Öffentlichkeit sich daran gewöhnt hat, diese Aufmerksamkeit hochzuhalten", sagte der Friedenspreisträger. Er erinnerte diesbezüglich an den Kampf gegen das südafrikanische Apartheid-Regime in den 90er Jahren. „Das hat auch Jahre gedauert, aber es gab einen Moment, an dem die Welt sich einig war, dass ein solches Regime keinen Platz mehr hat." Und eine solche Einigkeit entstehe auch langsam im Fall des Iran. Kermani sagte, die jetzige Protestbewegung im Iran habe eine andere Qualität als frühere Aufstände. „Jetzt ist es in vielerlei Hinsicht anders. Die Wut, die Verzweiflung ist so groß, dass die Menschen standgehalten haben. Es haben sich verschiedene Protestmotive vereint. "Seiner Aussage nach seien die Proteste durch die zahlreichen Hinrichtungen und Masseninhaftierungen ein wenig abgeebbt – „jeder hat Angst“ – doch zu Ende sei der Widerstand nicht. Man habe jetzt schon enorm viel bewegt und erreicht. Was dazu geführt hätte, dass „viele Risse im System offenkundig geworden sind". Der iranische Geheimdienst wisse genau, dass 80 Prozent der Bevölkerung das Regime ablehnten. „Und das wird nicht aufhören. Es wird weitergehen", sagte er abschließend und erhielt dafür am Ende des Abends jede Menge Applaus.
Für die Zuhörer*innen wurde an diesem Abend deutlich, dass Navid Kermani ein
fundierter Beobachter des Weltgeschehens ist, der nicht urteilt, sondern vielmehr zweifelt und so mit seiner differenzierten Analyse tiefer liegende Konfliktschichten und Handlungsoptionen sichtbar macht.                                                                                                                      André Sicks