Träger
des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels. Der Publizist war am
Jahrestag des Angriffs der russischen Armee auf die Ukraine zu Gast
in Gevelsberg, um im Bürgerzentrum der vhs Ennepe-Ruhr-Süd in einem
Gespräch mit WDR-Moderator Jan Schulte den Krieg in Europa sowie die
Proteste im Iran aufzugreifen und näher zu beleuchten. Kermani
habe sich zu einer der führenden intellektuellen Stim-men seiner
Generation entwickelt, sagte Bür-germeister Claus Ja-cobi zu Beginn
der Veranstaltung, die im Rahmen des Bundes-programms „Demokra-tie
leben!“ stattfand und der über 120 Zuhörer*innen beiwohnten. Mit
einer Vielzahl
an Romanen, Essays und Reportagen habe er unter Beweis gestellt, dass
er nicht nur ein Mittler zwischen Orient und Okzident ist, sondern
auch zwischen den Kulturen und Religionen.
Es
sei daher eine Ehre, den Publizisten gerade an solch einem
bedeutenden Tag in der Stadt begrüßen zu dürfen. Alle wüssten und
spürten die Folgen des blutigen Angriffskrieges: „Energiekrise,
eine hohe Inflation und den gewaltigen Druck auf unsere Demokratie,
von innen wie auch von außen.“ Daher seien in diesen von
Unsicherheit und Umbrüchen geprägten Zeiten Zusammenhalt und
Solidarität von entscheidender Bedeutung, mahnte Jacobi.
Eine Vielzahl an interessierten Bürger*innen kamen in die vhs Ennepe-Ruhr-Süd, um
den Ausführungen von Navid Kermani zum Ukraine-Krieg und der aktuellen Situation im Iran
zu lauschen.
Navid
Kermani lebt als freier Schriftsteller in Köln. Er ist habilitierter
Orientalist und Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und
Dichtung. Bereits mit
fünfzehn Jahren begann er in seiner Geburtsstadt Siegen
regelmäßig für die Lokalzeitung zu schreiben, und bereits während
seines Studiums in Köln arbeitete er als fester Autor für das
Feuilleton der FAZ. Neben seiner vielfach ausgezeichneten
literarischen Arbeit ist der Kölner Schriftsteller aber immer auch
Reporter und politischer Kopf geblieben. Die
Grundlage seines Vortrages an diesem Abend war sein 2022 erschienenes
Buch „Was jetzt möglich ist“. Dieses Buch versammelt erstmals
seine wichtigsten politischen Artikel aus inzwischen fast drei
Jahrzehnten. Einer seiner Artikel in diesem Buch, der in der ZEIT
veröffentlicht war, stammt vom 24. Februar 2022, nach der
Ankündigung Wladimir Putins, russische Truppen in den Donbass zu
verlegen.
In
diesem Artikel geißelte er den Krieg als Mittel der Politik und
sprach davon, dass eine EU-Mitgliedschaft der Ukraine ein Signal sein
könnte, dass von der Ukraine keine Gefahr ausgehe, mit dem Nachsatz:
„oder nur jene Gefahr für autoritäre Regime, die darin besteht,
dass freie Gesellschaften so viel anziehender sind“. Ein
paar Wochen später habe er sich dann selbst auf eine Reise in die
Ukraine begeben, so schilderte er seinen Zuhörer*innen, bei der er
unter anderem die Menschen in Kiew befragte hätte, ob sie sich
vorstellen könnten, irgendwann wieder in Frieden mit den Russen zu
leben. Eine der darauf gegebenen Antworten bestätigte den ganzen
Irrsinn: „Ich selbst bin doch praktisch ein Russe, ich spreche die
gleiche Sprache, das waren Leute wie wir." Wer einmal vor Ort
gewesen ist, so sagte Kermani, der erkennt, dass der Wille,
Widerstand zu leisten, in der Ukraine extrem stark ist. Was aber
spiele sich hierzulande ab? „Deutsche
Debattenkultur, Clickbaiting und Talkshow-Geistlosigkeit.“ Die
Menschen dort kämpften um die Existenz, machte der Schriftsteller
seinen Unmut deutlich. Russland kämpfe nicht um seine Existenz, für
„den Aggressor ist es ein Krieg der Armee“. In der Ukraine kämpfe
hingegen ein Volk. „Darum heiße ich auch Waffenlieferungen
und die Unterstützung für die Ukraine für gut.“ Denn dies
geschehe seiner Meinung nach nicht mit dem Ziel, Russland zu
besiegen, sondern um eine Verhandlungslösung zu erreichen. „Man
muss und sollte jede Chance für einen Frieden nutzen, oder sie
zumindest ausloten", so Kermani. Vielleicht,
so stellte er noch kurz in den Raum, sähe die Situation heute anders
aus, hätte Europa der Ukraine die geforderten Sicherheitsgarantien
gegeben, als sie 1993 die Atomwaffen an Russland abgab. Im Nachhinein
ein schweres Versäumnis des Westens, denn „im schlimmsten Fall",
so sagte er, könnte aus der damaligen Weigerung der Dritte Weltkrieg
folgen. Was wiederum die Komplexität der Weltpolitik beweist, in der
nichts ohne Folgen bleibt.
Navid Kermani erläuterte nicht nur im Gespräch mit WDR-Moderator Jan Schulte seine Aussagen, er beantwortete zwischendurch natürlich auch immer mal wieder aufkommende Fragen aus dem Publikum.
Neben
dem Ukraine-Krieg brannte ihm aber noch ein Thema unter den Nägeln:
die Situation im Iran. Der Schriftsteller appellierte an seine
Zuhörer*innen, die dortigen Proteste weiter zu unterstützen. „Wir
können uns ja nur verneigen vor dem Mut dieser Menschen, aber unsere
Aufgabe ist es, jetzt, wo der Iran aus den Schlagzeilen verschwindet,
weil die Situation nicht mehr so spektakulär ist, weil die
Öffentlichkeit sich daran gewöhnt hat, diese Aufmerksamkeit
hochzuhalten", sagte der Friedenspreisträger. Er erinnerte
diesbezüglich an den Kampf gegen das südafrikanische
Apartheid-Regime in den 90er Jahren. „Das hat auch Jahre gedauert,
aber es gab einen Moment, an dem die Welt sich einig war, dass ein
solches Regime keinen Platz mehr hat." Und eine solche Einigkeit
entstehe auch langsam im Fall des Iran.
Kermani sagte, die jetzige Protestbewegung im Iran habe eine andere
Qualität als frühere Aufstände. „Jetzt ist es in vielerlei
Hinsicht anders. Die Wut, die Verzweiflung ist so groß, dass die
Menschen standgehalten haben. Es haben sich verschiedene
Protestmotive vereint. "Seiner Aussage nach seien die
Proteste durch die zahlreichen Hinrichtungen und Masseninhaftierungen
ein wenig abgeebbt – „jeder hat Angst“ – doch zu Ende sei der
Widerstand nicht. Man habe jetzt schon enorm viel bewegt und
erreicht. Was dazu geführt hätte, dass „viele Risse im System
offenkundig geworden sind". Der iranische Geheimdienst wisse
genau, dass 80 Prozent der Bevölkerung das Regime ablehnten. „Und
das wird nicht aufhören. Es wird weitergehen", sagte er
abschließend und erhielt dafür am Ende des Abends jede Menge
Applaus. Für die Zuhörer*innen wurde an diesem Abend deutlich, dass
Navid Kermani ein fundierter
Beobachter des Weltgeschehens ist, der nicht urteilt, sondern
vielmehr zweifelt und so mit seiner differenzierten Analyse tiefer
liegende Konfliktschichten und Handlungsoptionen sichtbar macht. André Sicks