Montag, 1. April 2019

Einblicke ins Seelenleben der Sinti


Lügner, Trickbetrüger, Asoziale, Sozialtouristen – mit solchen und ähnlichen Vorurteilen über die so genannten „Zigeuner“ versuchte die Hamburger Regisseurin und Theaterpädagogin Christiane Richers am vergangenen Samstag mit ihrer musikalischen Lesung „Spiel Zigeunistan“ aufzuräumen.
Sie sprach dabei in ihren Texten über Identitäten, Gefühle und Vorstellungen zweier Hamburger Sinti. Und dafür hatte sie sich im Vorfeld lange mit Mitgliedern der Familie Weiss in Hamburg-Wilhelmsburg unterhalten. Die große Sinti-Familie ist seit Generationen in der Hansestadt zuhause, sie werden aber immer noch wie Fremde behandelt. Kako Weiss, musikalischer Spross dieser Familie und ein begehrter Jazz-Saxophonist, begleitete das Stück mit bekannten und selbst komponierten Melodien. Mit ihm — im Buch „Wolkly“ genannt — begann dieses dann auch, das anlässlich der Veranstaltungsreihe „Antiziganismus“ aufgeführt und vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend im Rahmen des Bundesprogramms „Demokratie leben!“ gefördert wurde. 

Bewegende Worte und Musikstücke 
Wolkly ist ein Schüler, der mit der Schule nichts mehr anzufangen weiß. „Das Leben hört auf: Jeden Morgen um 7.45 Uhr. Mein Hirn macht eine Vollbremsung, verweigert den Dienst.“ Mehr Wissen will er einfach nicht anhäufen, da helfen auch keinesfalls die so wichtig gemeinten Ermahnungen der Lehrerin. Anstelle Algebra und Grammatik zu pauken, macht Wolkly viel lieber besessen Musik. So wie sein Onkel Letscho und die vielen anderen seiner Verwandten. Womit der Junge seinen Altersgenossen weit voraus ist. Er kennt nämlich nicht nur Hip-Hop oder Heavy, er kennt vor allem die großen alten Jazzmusiker wie Django Reinhardt, Oscar Peterson oder Charlie Parker. Und deren Musik wurde bei „Spiel Zigeunistan“ von Kako Weiss unter die Sprache gelegt und für die Zuhörer eindrucksvoll interpretiert. 
Zigeuner, so erfuhren die Besucher/innen, darf sich dieses Volk, das vor 600 Jahren von Indien aus immer weiter nach Westen gedrängt wurde, gern selbst nennen. Nicht aber andere, deren Vorväter schon den „Zigeuner“ als verächtliches Schimpfwort missbraucht hatten. Und von wegen Herumtreiber und fahrendes Volk: „Wir sind so was von sesshaft“, ließ Christiane Richers Wolkly in dem Stück sagen. Nur wie sollen Menschen solide Wurzeln schlagen, die quer durch Europa aus jedem Land vertrieben, am Ende misshandelt und ermordet wurden? Im 19. Jahrhundert, gleich nach der Reichsgründung, wurden zunächst einmal alle „Zigeuner“ in Akten erfasst — solche Menschen konnte man dann leicht kriminalisieren und vertreiben, hieß es im Stück. Verfolgung und Missachtung steigerten sich bis zu den schwarzen Winkeln der Nazis, die Sinti im KZ als „Asoziale“ verdammten. 
In ihrer musikalischen Lesung „Spiel Zigeunistan“ 
lieferten die Hamburger Regisseurin Christiane Richers 
und der Jazz-Saxophonist Kako Weiss 
einen tiefen Einblick in das Seelenleben der Sinti.

Menschen sollten umdenken 
Heutzutage wirkt es befremdlich, wie abwertend in der Gesellschaft über die Volksgruppe der Sinti und Roma gesprochen wird, die das gleiche Schicksal erfahren musste wie die europäischen Juden. Die überwiegende Mehrheit der Menschen begegnet dem unermesslichen Leid, das der jüdischen Bevölkerungsgruppe einst durch die Nationalsozialisten zugefügt wurde, mit Betroffenheit und Schamgefühl. Wer aber kennt das Wort „Porajmos“, das auf Romanes „das Verschlingen“ bedeutet? Wer kennt die Geschichte der deutschen Sinti? Wer zollt ihnen den überfälligen Respekt für ihre Trauer und ihren Schmerz durch die kollektive Verfolgung und Ermordung durch die Nazis? Auch wenn es in Berlin eine Gedenkstätte für all jene Opfer gibt, so hat das politische Bewusstsein, das kollektive Gedächtnis, an dieser Stelle einen erschreckend hartnäckigen, blinden Fleck. Wie sich dieser aus Sicht der Sinti darstellt, diesen tieferen Einblick verdankte man nach gut zwei Stunden dem Theaterstück „Spiel Zigeunistan“. Der Abend bot somit einen aufrüttelnden Einblick in die vorhandenen Traumatisierungen deutscher Sinti, in ihre heutigen Lebensbedingungen, ihren Wünschen, Träumen und Ängsten. André Sicks