Lügner,
Trickbetrüger, Asoziale, Sozialtouristen – mit solchen und
ähnlichen Vorurteilen über die so genannten „Zigeuner“
versuchte die Hamburger Regisseurin und Theaterpädagogin Christiane
Richers am vergangenen Samstag mit ihrer musikalischen Lesung „Spiel
Zigeunistan“ aufzuräumen.
Sie sprach dabei in ihren Texten über
Identitäten, Gefühle und Vorstellungen zweier Hamburger Sinti. Und
dafür hatte sie sich im Vorfeld lange mit Mitgliedern der Familie
Weiss in Hamburg-Wilhelmsburg unterhalten. Die große Sinti-Familie
ist seit Generationen in der Hansestadt zuhause, sie werden aber
immer noch wie Fremde behandelt. Kako Weiss, musikalischer Spross
dieser Familie und ein begehrter Jazz-Saxophonist, begleitete das
Stück mit bekannten und selbst komponierten Melodien. Mit ihm — im
Buch „Wolkly“ genannt — begann dieses dann auch, das anlässlich
der Veranstaltungsreihe „Antiziganismus“ aufgeführt und vom
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend im Rahmen
des Bundesprogramms „Demokratie leben!“ gefördert wurde.
Bewegende Worte und Musikstücke
Wolkly
ist ein Schüler, der mit der Schule nichts mehr anzufangen weiß.
„Das Leben hört auf: Jeden Morgen um 7.45 Uhr. Mein Hirn macht
eine Vollbremsung, verweigert den Dienst.“ Mehr Wissen will er
einfach nicht anhäufen, da helfen auch keinesfalls die so wichtig
gemeinten Ermahnungen der Lehrerin. Anstelle Algebra und Grammatik zu
pauken, macht Wolkly viel lieber besessen Musik. So wie sein Onkel
Letscho und die vielen anderen seiner Verwandten. Womit der Junge
seinen Altersgenossen weit voraus ist. Er kennt nämlich nicht nur
Hip-Hop oder Heavy, er kennt vor allem die großen alten Jazzmusiker
wie Django Reinhardt, Oscar Peterson oder Charlie Parker. Und deren
Musik wurde bei „Spiel Zigeunistan“ von Kako Weiss unter die
Sprache gelegt und für die Zuhörer eindrucksvoll interpretiert.
Zigeuner,
so erfuhren die Besucher/innen, darf sich dieses Volk, das vor 600
Jahren von Indien aus immer weiter nach Westen gedrängt wurde, gern
selbst nennen. Nicht aber andere, deren Vorväter schon den
„Zigeuner“ als verächtliches Schimpfwort missbraucht hatten. Und
von wegen Herumtreiber und fahrendes Volk: „Wir sind so was von
sesshaft“, ließ Christiane Richers Wolkly in dem Stück sagen. Nur
wie sollen Menschen solide Wurzeln schlagen, die quer durch Europa
aus jedem Land vertrieben, am Ende misshandelt und ermordet wurden?
Im 19. Jahrhundert, gleich nach der Reichsgründung, wurden zunächst
einmal alle „Zigeuner“ in Akten erfasst — solche Menschen
konnte man dann leicht kriminalisieren und vertreiben, hieß es im
Stück. Verfolgung und Missachtung steigerten sich bis zu den
schwarzen Winkeln der Nazis, die Sinti im KZ als „Asoziale“
verdammten.
In
ihrer musikalischen Lesung „Spiel Zigeunistan“
lieferten die
Hamburger Regisseurin Christiane Richers
und der Jazz-Saxophonist
Kako Weiss
einen tiefen Einblick in das Seelenleben der Sinti.
Menschen sollten umdenken
Heutzutage
wirkt es befremdlich, wie abwertend in der Gesellschaft über die
Volksgruppe der Sinti und Roma gesprochen wird, die das gleiche
Schicksal erfahren musste wie die europäischen Juden. Die
überwiegende Mehrheit der Menschen begegnet dem unermesslichen Leid,
das der jüdischen Bevölkerungsgruppe einst durch die
Nationalsozialisten zugefügt wurde, mit Betroffenheit und
Schamgefühl. Wer aber kennt das Wort „Porajmos“, das auf Romanes
„das Verschlingen“ bedeutet? Wer kennt die Geschichte der
deutschen Sinti? Wer zollt ihnen den überfälligen Respekt für ihre
Trauer und ihren Schmerz durch die kollektive Verfolgung und
Ermordung durch die Nazis? Auch wenn es in Berlin eine Gedenkstätte
für all jene Opfer gibt, so hat das politische Bewusstsein, das
kollektive Gedächtnis, an dieser Stelle einen erschreckend
hartnäckigen, blinden Fleck. Wie sich dieser aus Sicht der Sinti
darstellt, diesen tieferen Einblick verdankte man nach gut zwei
Stunden dem Theaterstück „Spiel Zigeunistan“. Der Abend bot
somit einen aufrüttelnden Einblick in die vorhandenen
Traumatisierungen deutscher Sinti, in ihre heutigen
Lebensbedingungen, ihren Wünschen, Träumen und Ängsten. André Sicks